Alle seine (Rousseaus, siehe Teil 1) Berufungen auf das mitfühlende Herz können nicht verschleiern, dass der Individualismus hier auf seinen Gipfel kommt und sich selber ad absurdum führt. Die Ergänzung dieses Individualismus ist ein ebenso extremer Kollektivismus, wie wir ihn in Rousseaus Staatsbegriff finden.
Aus der gleichen geschichtsphilosophischen Voraussetzung: dass die Gegenwart völlig verderbt sei, zieht Fichte eine ganz andere pädagogische Folgerung. Er sondert die im Geiste eines neuen Zeitalters zu erziehende Generation zwar auch ab von der Älteren. aber er lässt die Kinder doch immerhin unter der Obhut ihrer Lehrer in einer Anstaltsgemeinschaft aufwachsen. Aber die Bedeutung Fichtes für die theoretische Pädagogik ist nicht in der Eroberung des Begriffs der Gemeinschaft für die Erziehungswissenschaft zu suchen. Fichte tritt an das Problem der Erziehung unter dem Gesichtspunkt der ideellen Aufgabe heran, die der neuen Generation gestellt ist. Auf diesem Wege findet und gestaltet er den Begriff der Nation als einer geschichtlichen Abstammungsgemeinschaft, die zugleich eine Gemeinschaft der reinen Geister ist, wobei es Fichte wesentlich auf den Nachweis des geistigen Charakters dieser Gemeinschaft ankommt, nicht jedoch auf den Nachweis der eigenständigen Bedeutung einer konkreten Gemeinschaft als solcher. Und von einer erzieherischen Wirksamkeit der Gemeinschaft ist nicht die Rede. Schließlich ist auch bei Fichte die Erziehung mehr eine Erziehung zur geistigen Gemeinschaft, als eine Erziehung durch die Gemeinschaft.
Von den beiden konkreten Gemeinschaftsformen (Familie und Männerbund oder Sippe und Gefolgschaft) erscheint in Fichtes Erziehungssystem nicht eine. An ihrer Stelle steht die reine Vernunftkonstruktion einer Erziehungsanstalt, die unter der Aufsicht von Lehrern Kinder beiderlei Geschlechts vereinigt. Ursprünglich und vor aller Erziehung, so meint Fichte, liegt im Menschen das, was Erziehung überhaupt erst möglich macht. Sittlichkeit kann nicht in das Kind hineingebracht werden, wenn sie nicht vorher in demselben schon wäre. Die reinste Gestalt dieser Sittlichkeit aber ist der Trieb nach Achtung. Nicht sinnliche Kindes- und Elternliebe, wie Pestalozzi annimmt, sondern Trieb zu gegenseitiger Achtung ist für Fichte die Grundlage aller sittlichen Erziehung. Demnach entwickelt sich der Mensch nicht im Leben innerhalb der Gemeinschaft durch gegenseitiges Nehmen und Geben zum vollen Menschen, sondern das Zusammenleben mit andern ist nur die Konsequenz einer fertig in uns gelegten, gleichsam präformierten Sittlichkeit. Der Trieb nach Achtung hat keine eigentliche Entwicklung, er ist seinem Gehalt nach immer derselbe. Er ändert sich wohl der Erscheinung nach, aber nicht dem Wesen nach. So nimmt Fichte zwar die Beziehung zwischen Mensch und Mensch als Grundlage aller sittlichen Erziehung an, aber er versteht darum nicht den Menschen als ein in sittlicher Hinsicht innerhalb der Gemeinschaft sich entwickelndes Wesen.
Das hat zur Folge, dass die Gemeinschaft als die Voraussetzung der sittlichen Entwicklung in der pädagogischen Theorie gänzlich in den Hintergrund tritt. Der Begriff der Nation wird von Fichte, so merkwürdig uns das auch heute klingen mag, nicht aus dem Begriff der Gemeinschaft abgeleitet. Fichte weiß nichts davon, dass der Mensch erst in der Gemeinschaft zum wirklichen Menschen heranwächst. Gegenseitige Achtung ist etwas Großes, aber in gegenseitiger Achtung erschöpfen sich längst nicht die menschlichen Beziehungen einer lebendigen Gemeinschaft. Viel elementarere Vorgänge als der des gegenseitigen Sichachtens machen die Grundschicht des Lebens der Gemeinschaft aus.
Weil Fichte alle diese Vorgänge unbeachtet lässt, vermag er seinen Begriff der Nation nicht von unten her aufzubauen, sondern muss ihn von oben her konstruieren. Pestalozzi wiederum kennt den Begriff der Nation im fichteschen Sinne nicht. Sein Begriff des Volkes ist lediglich ein sozialer. „Volk“ bedeutet bei Pestalozzi ganz unbestimmt das „niedere“ Volk, dem geholfen werden muss, nicht das politische Volk, die geschlossene Nation. Der Weg Pestalozzis zur Pädagogik führt nicht über die Philosophie der Geschichte und die geschichtliche Erscheinung der Nation, sondern über das Erlebnis der Jugenderziehung. Und das bedeutet bei ihm: über das Erlebnis der lebendigen Gemeinschaft. Es ist die enge Gemeinschaft des Hauses, der Familie, der elterlichen und kindlichen Liebe, die Pestalozzi dabei ausschließlich im Auge hat. Niemals hat sich sein Gemeinschaftsbegriff von diesem engen Ausgangspunkt gelöst. Die Zeitbedingtheit dieses friedlich-idyllischen Begriffs der Gemeinschaft ist leicht zu erkennen und die Kritik desselben kann im Zeitalter der großen Nationalstaaten ohne Mühe gegeben werden. Für die pädagogische Theorie aber ist nicht entscheidend, von welchem Teilbezirk der Gemeinschaft Pestalozzi ausging, sondern entscheidend ist einmal die Tatsache, dass er überhaupt bei der realen Gemeinschaft der Familie eingesetzt hat – das war eine echte Revolution – und zum zweiten, in welcher Weise er seinen Ansatz aufgefasst hat.
Im Bewusstsein der Nachwelt lebt Pestalozzi als Schöpfer der Methode des Elementarunterrichts fort, als Didaktiker also. Ein tragisches Missverständnis! Gerade auf das, was vor aller Didaktik liegt, kam es dem Praktiker wie dem Theoretiker Pestalozzi an. Es ist ihm schwer geworden, seinem größten und wichtigsten Gedanken angemessen Ausdruck zu geben und vielleicht können wir erst heute ganz verstehen, wie einfach und richtig der Ansatz der pestalozzischen Pädagogik ist. Es war eine ganz schlichte Erkenntnis, die Pestalozzi aussprechen wollte. Aller Unterricht, und mag er noch so erfolgreich sein, ist ohne Wert und Sinn, wenn er sich nicht vollzieht im Rahmen einer lebendigen Gemeinschaft. Ausbildung des Intellekts und des Willens führt zu nichts als tausend leeren Fertigkeiten, wenn der Mensch sich nicht gleichzeitig sittlich entfaltet. Das aber tut er nur unter dem Anhauch der Liebe.
„Der Irrtum war groß und die Täuschung unermesslich“, sagt Pestalozzi, „dass man glaubte, ich suche die Ausbildung der Menschennatur durch einseitige Kopfbildung, ich suche sie durch die Einseitigkeit des Rechnens und der Mathematik; nein, ich suche sie durch die Allseitigkeit der Liebe.“
Das Leben des Herzens geht allem richtigen Wissen und Können vorher und ohne Entfaltung der Kräfte des Herzens nützt alle Entwicklung der geistigen Fähigkeiten nichts. Daher kann das Kind nur im Kreise des häuslichen Lebens sittlich erzogen werden.
„Das Kind liebt und glaubt, ehe es denkt und handelt und der Einfluss des häuslichen Lebens reizt und erhebt dem inneren Wesen der sittlichen Kräfte, die alles menschliche Denken und Handeln voraussetzen […]“
Der Punkt, bei dem Pestalozzi einsetzt ist also jene Schicht von elementaren Erfahrungen und Erlebnissen, die das Kind mit Mutter, Vater und Geschwistern verknüpfen. Es handelt sich bei der „Liebe“ – in welches Wort Pestalozzi alle diese Erlebnisse zusammenfasst – nicht um einmalige frühe Erlebniszustände, sondern um etwas, was dem Menschen dauernd wesentlich ist, um das, was ihn eigentlich erst zum Menschen macht. Aufgabe des Erziehers ist es, den methodisch geleiteten Unterricht niemals von solchen Situationen zu lösen, durch die die Liebeskraft des Zöglings in Anspruch genommen wird. Nur in einem fortwährenden Austausch liebevollen Gebens und Nehmens vermag das Kind als sittliches Wesen sich zu entfalten. Nichts wäre verhängnisvoller als eine Didaktik, die ohne diese elementare Erziehung durch Liebe (die wir eine emotionale nennen können) den Menschen zu bilden unternähme. Sie würde eine mechanische Puppe, nicht einen lebendigen Menschen zum Ergebnis haben.
„Glaube und Liebe ist das A und das O der naturgemäßen, folglich der elementarischen Bildung zur Menschlichkeit. Die Geistesbildung und die Kunstbildung sind nur ihr untergeordnete Bildungsmittel und vermögen nur in dieser Unterordnung mitwirkend das ihrige zur Harmonie unserer Kräfte und zum Gleichgewicht derselben untereinander beizutragen.“
Pestalozzi ist der erste Pädagoge, der den Menschen nicht als einen vereinzelten, fertigen, sondern als einen in der Gemeinschaft sich erst entwickelnden verstanden hat. Er ist der erste, der bei allem Erziehen und Unterrichten einen realen Lebenskreis, eine Gemeinschaftswirklichkeit für das erste und wichtigste hält. Er hat sich den Fragen der Didaktik mit wahrer Leidenschaft zugewendet und sich dabei in die sonderbarsten Gedankengänge verrannt. Niemals hat er Fragen der Unterrichtsmethodik in ihrer Bedeutung unterschätzt. Zugleich aber hat er für alle Zeiten dem Unterricht den Platz angewiesen, an dem allein er seine segensreiche Wirkung zu entfalten vermag: Unterricht muss stets eingebaut sein in eine lebendige Gemeinschaft – das ist die entscheidende Einsicht Pestalozzis, die Lehre, die er den Lehrergenerationen nach ihm hinterließ. Nur wenn die „Grundkräfte“, die das Zusammenleben der Menschen in der Familie möglich machen, lebendig und rege sind, können Intellekt und Wille ohne Schaden sich entfalten.
Die Pädagogik Pestalozzis unterscheidet daher die Entfaltungsmittel der menschlichen Grundkräfte von den Mitteln der Einübung und Abrichtung zu Kenntnissen und Fertigkeiten. Die Entfaltungsmittel der Grundkräfte sind immer sich selbst gleich und gehen von ewigen Gesetzen aus; die Mittel der Einübung und Abrichtung sind so verschieden wie die Gegenstände der Welt, auf deren Erkenntnis und Benutzung unsere Kräfte angewandt werden. Diese sind jenen untergeordnet und eingeordnet. Das bedeutet nicht nur den Vorrang des Irrationalen vor dem Rationalen, des Herzens vor dem Verstande, sondern es bedeutet den Vorrang der Lebenswirklichkeit vor allem Unterricht und vor allem Wissen und Können des Einzelnen. Der tiefste Sinn des Vorrangs der Lebenswirklichkeit vor der Methode aber ist der Vorrang der Gemeinschaft vor dem Einzelindividuum. Dieser Vorrang ist nicht so zu verstehen, als seien Gemeinschaft und Individuum voneinander trennbar, und als müsse man jene höher bewerten als dieses. Das wäre eine äußerlich-mechanistische Vorstellungsweise. Gemeinschaft und Individuum gehören zusammen und bilden ein Ganzes. Vorrang der Gemeinschaft besagt (in Pestalozzis Sprache) Vorrang der Liebe, und das bedeutet: Vorrang der Kräfte, die das unmittelbare Leben der Gemeinschaft begründen, vor allen Fähigkeiten und Leistungen anderer Art, seien es auch diejenigen, die den Stolz des Einzelnen ausmachen.


